Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

click click

Wie kann Yoga bei Angst helfen?

von Michaela Kleber

Alle Menschen empfinden Furcht oder Angst, je nach Lebenssituation, Veranlagung und biografischen Erfahrungen mehr oder weniger häufig und intensiv. Wir unterscheiden uns darin nicht sehr von vielen anderen Lebewesen. In bedrohlichen Situationen Furcht zu empfinden, ist offensichtlich ein evolutorischer Vorteil: Furcht rüttelt auf und lässt Körper und Geist in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit, Erregung und Bereitschaft schalten, aus dem heraus Kampf oder Flucht möglich werden. Auch die Angst vor einem konkreten Ereignis, das in der Zukunft eintreten könnte und das man nicht erleben möchte, kann funktional sein: Ich könnte zum Beispiel Angst haben, durch eine Prüfung zu fallen oder auf der Fahrt durch Eis und Schnee einen Unfall zu erleiden. Funktional ist diese Angst dann, wenn sie ein planvolles vorsorgliches Verhalten aktiviert: Ich bereite mich auf die Prüfung gut vor bzw. ich sorge dafür, dass mein Auto Winterreifen hat und dass Schneeketten im Kofferraum liegen. Ist die Angst der Situation angemessen und kann ich sinnvoll darauf reagieren, so löst sie sich auch beizeiten ohne Probleme wieder auf.

Typisch für uns Menschenwesen ist die Tatsache, dass unsere Angst sehr leicht auch dysfunktional werden kann. Wir können uns vor Situationen fürchten, die überhaupt keine Gefahr für unsere Unversehrtheit mit sich bringen, sondern uns lediglich unsicher und verlegen machen. Wir können auf eine verhältnismäßig geringe Bedrohung mit völlig überdimensionierten Ängsten reagieren. Und wir können eine allgemeine Ängstlichkeit entwickeln, die sozusagen vorsorglich immer da ist und uns in permanenter Wachsamkeit und Erregung hält, nur für den Fall, dass irgendeine Gefahr auftauchen könnte.

Als junge Erwachsene war ich ausgesprochen neugierig und immer bereit, neue Orte zu erkunden oder Unbekanntes auszuprobieren. Wenn ich dann meinem Vater davon erzählte, war seine Standardreaktion „pass bloß auf!!!“. Dieser Satz wurde zu meinem Code für eine anlasslose Überängstlichkeit, mit der wir uns selbst Erlebnismöglichkeiten abschneiden, um nicht mit der allgemeinen Unsicherheit des Lebens und unserer eigenen Angst davor konfrontiert zu werden. Anlasslos heißt aber nicht grundlos: So wie bei meinem Vater, der in ganz jungen Jahren im und nach dem zweiten Weltkrieg als Soldat und als Kriegsgefangener mehr Grauen erlebt hat, als er verarbeiten konnte, gibt es für die Überängstlichkeit bis hin zur „generalisierten Angststörung“ wohl immer handfeste biografische Ursachen.

Dysfunktional ist die Vermeidung von unbekannten oder angstauslösenden Situationen nicht nur deshalb, weil wir uns damit selbst unnötig beschränken. Sie führt auch zu einem falschen und selbstverstärkenden Lerneffekt: Wir erleben nichts Gefährliches und führen das bewusst oder unbewusst darauf zurück, dass wir so vorsichtig sind. Unsere Ängstlichkeit scheint also sinnvoll zu sein. Das Vermeidungsverhalten verhindert jedoch, dass wir Lernerfahrungen machen, die unsere gewohnte überzogene Gefahreneinschätzung korrigieren. Und wir verlernen den Umgang auch mit mäßig Angst auslösenden Situationen und müssen uns daher immer mehr einschränken.

Ein eindrucksvolles Beispiel erzählt die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön in ihrem Buch Geh an die Orte, die du fürchtest: „Eine Freundin erzählte mir einmal von ihren betagten Eltern in Florida. Sie leben in einer Gegend, wo es viel Armut und Not gibt, und Gewalt ist deshalb eine durchaus ernstzunehmende Bedrohung. Ihre Weise, mit dieser Bedrohung umzugehen, besteht darin, daß sie in einer von Mauern umgebenen Siedlung leben, die von Wachhunden und elektrischen Zäunen geschützt wird. Natürlich hoffen sie, daß dort nichts Beängstigendes eindringen kann. Bedauerlicherweise fürchten sich die Eltern meiner Freundin immer mehr, die schützenden Mauern zu verlassen. Sie würden ja gern zum Strand oder auf den Golfplatz gehen, aber sie haben Angst davor, sich frei zu bewegen. Jetzt bezahlen sie sogar jemanden dafür, daß er die Einkäufe für sie erledigt, aber ihr Gefühl der Unsicherheit nimmt ständig zu. In letzter Zeit haben sie eine Paranoia gegenüber den Menschen entwickelt, die durch das Tor eingelassen werden: Leute von irgendeinem Kundendienst, Gärtner, Klempner, Elektriker. Aufgrund ihrer Isolation werden sie zunehmend unfähiger, mit einer unvorhersehbaren Welt umzugehen.“ (S. 22 f.) Nicht die Angst selbst ist hier das Problem, sondern unsere vielfältigen Versuche, sie zu vermeiden.

Solche Schutzmauern müssen nicht aus Beton und Stacheldraht sein. Auch unser Verharren in immer denselben vertrauten Gewohnheiten und Abläufen, auch die Geschichten, die wir uns und anderen über uns selbst erzählen und mit denen wir an unserem vertrauten Selbstbild basteln, auch festgefahrene Meinungen und Glaubenssätze, mit denen wir die grundsätzliche Unsicherheit des Lebens und unser weitreichendes Nichtwissen leugnen, sind Mauern, die uns vor Verunsicherung, Verlegenheit und Angst schützen sollen.

Wie kann Yoga beim Umgang mit dysfunktionaler Angst helfen?

Zunächst einmal ist Angst ein Stressauslöser. Vieles von dem, was wir im Yoga auf der Matte tun, triggert das parasympathische Nervensystem und sorgt dafür, dass wir besser aus unangemessenem Stress herauskommen: die langsame ruhige Atmung (besonders dann, wenn dabei die Ausatmung betont wird), die Konzentration auf das, was hier und jetzt geschieht, der achtsame Umgang mit unseren Grenzen, der bewusste Kontakt zur Erde, das Chanten von offenen Tönen oder Mantras, Umkehrhaltungen und vieles mehr. All das beruhigt unser Nervensystem ganz unabhängig davon, ob der Stress durch Überforderung, Angst oder Wut oder eine Kombination daraus entstanden ist.

Schon etwas spezifischer ist der stärkende Aspekt des Yoga: Viele Asanas trainieren die muskuläre Kraft – besonders in der Körpermitte. Wir lernen Kraft einzusetzen ohne dabei unnötige Anspannung hervorzurufen. Wir fühlen uns kräftig, ohne überfordert zu sein. Und wir stärken uns nicht nur körperlich: Die Arbeit mit Atemtechniken und mit der Meditation macht es uns mit einiger Übung möglich, immer wieder zu einem stillen und sicheren Ort in uns selbst zu finden, einem weiten Raum der Bewusstheit, in dem Körperwahrnehmungen, Gedanken und Gefühle immer noch da sind, uns aber nicht überwältigen können. Die Erfahrungen, die wir auf diesem Weg machen, haben viel mit Selbstwirksamkeit zu tun. Wir können tatsächlich selbst etwas tun, was unser körperliches und mentales Wohlbefinden spürbar hebt. Im Yogasutra gibt es dafür das Sanskritwort śraddhā (oder shraddha geschrieben). Es steht für ein Vertrauen in unsere Fähigkeit, den Anforderungen des Lebens standzuhalten und auf unserem inneren Entwicklungsweg sinnvolle Schritte zu gehen, ein Vertrauen oder sogar eine Gewissheit, die aus unserer eigenen Erfahrung erwächst. Wo śraddhā zunimmt, wird die Gewohnheit, ängstlich zu sein, von selbst schwächer.

Der wichtigste Schritt in Bezug auf dysfunktionale Angst ist jedoch, dass wir die Angst vor der Angst verlieren und lernen, sie direkt zu konfrontieren. Deshalb gibt es in den östlichen Weisheitslehren die Figur des Kriegers: Im Hatha-Yoga ist der Krieger eine Position, in der wir mit ausgebreiteten oder gehobenen Armen Brust und Hals ungeschützt präsentieren. Die Beine sind gut geerdet, der Herzraum ist leicht angehoben und besonders gut spürbar. Wir sind in Kontakt mit unserer Kraft und gleichzeitig mit unserer Empfindsamkeit und Ungeschütztheit. Lernen, ein Krieger zu sein, bedeutet nicht, keine Angst mehr zu haben. Es bedeutet vielmehr, die Angst direkt zu konfrontieren, die grundsätzliche Unsicherheit dieses sich ständig verändernden Lebens zu akzeptieren und sich der eigenen Verunsicherung, Verletztheit, Verlegenheit und Ängstlichkeit mutig zu stellen.

Diese Fähigkeit von der Matte in den Alltag zu bringen heißt, dass wir damit aufhören, Unsicherheit und Angst um jeden Preis vermeiden zu wollen. Anstatt uns in schwierigen Situationen hinter trügerischen Sicherheiten, Meinungen und Selbstbildern, im Korsett unserer gewohnten Denk- und Verhaltensmuster zu verschanzen, setzen wir uns unserer eigenen Verlegenheit und Ängstlichkeit aus. Wenn ein Kleinkind weinend aus einem Albtraum erwacht, leuchtet die Mutter mit der Lampe unter das Bett, um ihm zu zeigen, dass kein Ungeheuer darunter lauert. Genauso können wir lernen, mit dem Licht unseres Bewusstseins unsere Ängste direkt anzuschauen. Dann gibt es eine gute Chance, dass sie sich auflösen wie jedes Gespenst, das ans Licht gebracht wird.